Schlüsselkind - Meine Kindheit auf dem Dorf

Ich war ein Schlüsselkind in den 60ern, auf dem Dorfe. Ich war etwas Besonderes.

Mütter in den 60ern erlebte man auf dem Lande entweder als Hausfrauen oder als mitarbeitende Arbeitskräfte in Betrieben wie Bauernhöfen, Tischlereien, bei Klempnern oder Baugeschäften.
Mit Erika und ihren Schwestern im Garten

Kinder, deren Mütter zum Arbeiten aus dem Haus gingen, waren auf dem Lande sehr selten. Und Einzelkinder auch...
In Ahrbergen, wo wir damals in einer Bundesdahrlehens-Wohnung für Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes wohnten, war meine Mutter die einzige arbeitende Frau, die ich kannte. Zunächst nur halbtags, entfloh sie der Eintönigkeit des verschlafenen Dörfchens nach meiner Einschulung für ganze Tage. Und ich durfte als einziges Schulkind im katholischen Kindergarten verbleiben. 
Schwester Oberin

Als Erzieherinnen noch Tante hießen: Tante Rosi

Ein großes Privileg - Durfte ich doch bei Schwester Oberin am großen Schreibtisch meine Hausaufgaben erledigen und wurde mit sauren Gurken in der Küche verwöhnt. Morgens weckte mich meine Mutter und fuhr in die Kreisstadt ins Büro. Auf einer Pappuhr stellte sie die Zeit ein, zu der ich aus dem Hause gehen musste. Das Pappding stand neben unserer großen Stubenuhr auf dem Wohnzimmerschrank und wenn die mit ihren Zeigern die richtige Zeit anzeigte, nahm ich meine Sachen und zog los.
Nach der Schule ging ich dann in den Kindergarten, wo meine Mutter mich zum Mittagessen abholte. Sie kam immer Mittags nach Hause, wir aßen zusammen, dann ging es für sie zurück ins Büro und für mich nach draußen. Ich verbrachte viel Zeit draußen an der frischen Luft, entweder im eigenen Garten oder unterwegs bis in den Wald.
Meine Mutter würde wohl heute noch von einer Ohnmacht in die andere fallen, wenn sie wüsste, wo ich mich herumgetrieben habe, wie auf der Eisenbahnbrücke über der Innerste balancierend. 
Auf großer Tour

Meist war ich mit meinen Freundinnen unterwegs. Mit Rosi, die über den Flur hinüber wohnte oder mit Erika von der Familie unter uns. Ein Haus weiter wohnte Irene, die Tochter des angesehenen örtlichen Posthalters, eigentlich meine beste Freundin in der Grundschulzeit. Nur vor ihrer Mutter hatte ich Angst. Schläge waren damals noch politisch korrekt. Und Irenes Mutter hat mal in meinem Beisein die große Schwester mit einem Holzlatschen vertrimmt, bis diese am Boden lag. Rosis Mutter überließ das körperliche Abstrafen der drei Kinder immer dem Mann, der zum Feierabend von seiner in Reih und Glied stehenden Familie empfangen wurde. Mit dem Ruf quer durchs Haus "Der Vati kommt, der Vati kommt." brach meist drüben die Panik aus. Am schlimmsten an dem Tag, an dem Rosis Bruder seine Zahnspange aus der Hosentasche verloren hatte. Wirklich - wir haben sie mindestens 2 Stunden gesucht, die war einfach weg.
Rosi mit weißer Bluse, Irene mit Rolli, Petra mit dem Schlüssel um den Hals

Mit dem Ende der Grundschulzeit kam die große Trennung. Fast alle Klassenkameraden gingen zur Hauptschule oder zur Realschule in die nächste Kleinstadt. Nur Franz, der Sohn des Bürgermeisters und ich sollten zum Gymnasium in die große Stadt. Selbstverständlich nicht zusammen, gab es doch noch getrennte Jungen- und Mädchen-Bildungsanstalten. 
5.Klasse Goethe Gymnasium Hildesheim

Eingeschult wurde ich in Röschen Schulzes Klasse, zusammen mit Gabi. Wir beiden waren die Kleinsten - das schweißte sofort zusammen. Gabis Eltern waren schon seeehr alt, Gabis Vater war sogar über 50. Das war aber eigentlich für unsere Geburtsjahrgänge nichts Besonderes. Waren doch viele Männer erst spät in den 50er Jahren aus der Kriegsgefangenschaft gekommen. Gabis Mutter gehörte zu diesen Müttern, die immer rackerten und ackerten. Sie schmiss das Büro der Tischlerei, kochte Essen, kaufte ein und wenn noch ein bisschen Zeit übrig war, schleppte sie Steine auf der Baustelle des Mietshauses, dass sie auf einem geerbten Grundstück bauten.
Auch mit Gabi war ich viel draußen unterwegs, bis zur Autobahnbrücke über die A7, wo wir stundenlang den LKW-Fahrer zugewunken haben.
In den Ferien, wenn meine Freundinnen mal keine Zeit hatten, durfte ich manchmal zu meinen Eltern mit ins Büro oder sogar in die Kaserne. Dort hatten mich die jungen Soldaten aus der Schreibstube quasi adoptiert und auch in der Kantine durfte ich mich frei bewegen und den Wehrpflichtigen zeigen wie man unfallfrei Scholle isst, ohne ein Chaos mit den Gräten anzurichten. Dafür brachten sie mir das Twist-Tanzen bei. Im Büro sitzen und malen und Bilder stempeln, gefiel mir immer gut. Beim Papa besser als in der Heizungsfirma, in der meine Mutter arbeitete. Bei der Bundeswehr gab es nämlich außer den blauen und roten Stempelkissen auch noch das grüne vom Kommandeur. Und so stempelte ich Bäume mit "VS-Vertraulich", "Geheim" oder "Erledigt". 
Anfang der 70er zogen wir dann in die Kreisstadt, nach 10 Jahren auf dem Dorf.

Kommentare

  1. Danke für diesen Einblick in dein Leben und deine Kindheit!

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  2. Hallo Maike,
    Vielen Dank fürs Lesen.
    Die Jahre in Hildesheim bekommen demnächst einen eigenen Post.

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  3. Liebe Petra,

    sehr schöner Beitrag, der mich irgendwie an meine Kindheit erinnert. Wenn ich auch in der Großstadt Hamburg aufgewachsen bin, aber unsere Straße war irgendwie ein Dorf. Vor allem der Satz "wenn meine Mutter wüsste, wo ich mich herumgetrieben habe" hätte von mir stammen können. Ich war auch mit meinen Freunden den ganzen Tag draußen, wir krabbelten durch Entwässerungskanäle, auf Bäumen, einfach überall rum. Nur waren wir kaum drinnen. Ich hatte eine tolle Kindheit. Unbeschwert.

    Viele Grüße
    Sabine

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